Do., 07.09.2023 , 09:42 Uhr

Baden-Württemberg: Künstliche Intelligenz soll Kinder vor Hitzetod im Auto schützen

Kinder in Autos zuverlässig erkennen, damit sie bei Hitze nicht vergessen werden: Mit KI-Systemen soll das bald möglich sein. Die Funktionen sollen wie ein Gurt bald zur Pflicht in Neuwagen werden – und dadurch viele Kinderleben retten.

Von Aleksandra Bakmaz, dpa

Rietheim-Weilheim. Erst fühlt es sich wie Fieber an, dann wird man bewusstlos und wacht womöglich nie wieder auf: Der Hitzschlag im Auto lässt bei Babys und Kleinkindern nicht lange auf sich warten. Minuten können über Leben und Tod entscheiden. In Italien kämpft man seit 2019 mit Warnmeldern an Kindersitzen gegen das Zurücklassen in Autos an, in Deutschland wollen Autozulieferer mit Hilfe von künstlicher Intelligenz (KI) Kinderleben retten.

«Child Presence Detection» heißt das neue System, das weltweit in Autos zum Einsatz kommen soll. Entwickelt wird es auch von Marquardt, einem Unternehmen in Rietheim-Weilheim im Landkreis Tuttlingen unweit des Bodensees. Der Mechatronik-Experte hat seit 2021 ein ganzes Team darauf angesetzt, Sensoren zu entwickeln und eine KI mit Daten zu füttern, um die Atmung von Kindern zu erkennen. «Die Atmungsbewegung ist ein untrügliches Zeichen von Leben», erklärt Innovationsexperte Andreas Becher, der das Projekt leitet. Sie sei ständig da und gut messbar.

Die Hebung und Senkung des Brustkorbs werde von zwei Radarsensoren aufgezeichnet, die auf Basis von Ultrabreitband-Strahlung (UWB) funktionierten, so Becher weiter. Diese seien über jeder Sitzreihe angebracht. KI werte die Daten dann aus, ordne sie zu und gebe sie an die Fahrzeugelektronik weiter. «Innerhalb von wenigen Sekunden werden die Eltern auf dem Smartphone benachrichtigt, dass sich noch ein Kind im Auto befindet», sagt Becher. Davor gebe das Auto Lichtzeichen und Hupgeräusche ab. Die KI könne anhand der Vitaldaten auch entscheiden, ob ein Notruf nötig sei.

Damit die Software-Algorithmen mit KI zuverlässig Kinderatmung etwa von der Bewegung von Gegenständen unterscheiden könnten, seien sie mit sehr vielen Daten gefüttert worden. «Eine KI anzulernen heißt messen, messen, messen.» In einem medizinisch begleiteten Testversuch seien die Daten von rund 100 Kindern der Belegschaft im Alter von null bis zehn Jahren ausgewertet worden. Angesichts des sehr emotionalen Themas habe es bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern eine große Bereitschaft gegeben, bei dem Versuch mitzumachen, sagt Becher.

In einem Testfahrzeug sei die Atmung der Probanden aufgezeichnet worden. Die Atembewegung habe ein spezielles Muster. Die Erkennung sei mit den Sensoren auch durch dicken Stoff oder eingebaute Kindersitze zuverlässig möglich. Diese Daten hätten die Grundlage für die KI geliefert.

Radar-Technologie sei am erfolgversprechendsten, so Becher. Das System müsse Leben im Fahrzeug auch erkennen, wenn das Kind nicht sichtbar sei – etwa, weil es zugedeckt sei oder sich im Fußraum des Fahrzeugs befinde. Kameras seien deshalb schon früh ausgeschieden. «Hier geht es um das Leben von Kindern – wir wollten sicher sein, dass man das zuverlässig erkennt.»

Auch Bosch und Continental arbeiten an solchen Ultrabreitband-Systemen. Der Einsatz von Funkwellen in Fahrzeugen sei grundsätzlich nichts Neues, erklärt ein Continental-Sprecher. Die Technik lasse das Smartphone schon zum Autoschlüssel werden und ermögliche Fahrern so einen kontaktlosen Zugang. «Im Prinzip werden Funkwellen ausgesendet, die reflektiert werden», so der Sprecher. «Im Endeffekt tastet der Sensor Atemfrequenzen ab und ein Algorithmus verarbeitet die Daten.»

Mit ihren Systemen folgen die Entwickler geplanten neuen Sicherheitsvorgaben des Euro NCAP (New Car Assessment Programme), einem europäischen Verband für Fahrzeugsicherheit. Dieser will in den kommenden Jahren einen besseren Kinderschutz in Neuwagen. Bis 2025 werden die neuen Sicherheitsvorgaben erwartet. Bis dahin wollen die Hersteller mit ihren Systemen serienreif sein. Ähnliche Vorgaben könnte es auch für den US-Markt geben, wie es von den Autozulieferern heißt.

Wie tödlich Hitze in Autos für Babys und Kleinkinder sein kann, zeigen Erhebungen aus den USA. Dort sind laut Statistiken seit 1998 mehr als 950 Kinder an einem Hitzschlag in einem Fahrzeug gestorben. In diesem Jahr waren es demnach schon mehr als ein Dutzend. In mehr als der Hälfte der Fälle wurden die Jungen und Mädchen im Auto vergessen. Die meisten von ihnen waren den Daten nach unter zwei Jahre alt.

In Deutschland machte Ende Juni ein Fall aus Hessen Schlagzeilen. Im Landkreis Gießen starb laut Polizei ein 18 Monate alter Junge in einem geparkten Auto, weil sein Vater ihn darin vergessen hatte. Gegen ihn wird wegen des Anfangsverdachts der fahrlässigen Tötung ermittelt.

Ein Auto kann bei Hitze schon nach wenigen Minuten zur Todesfalle werden, wie Jakob Maske vom Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte erklärt. «Weil sich ein Auto einfach sehr schnell aufheizt», so der Berliner Mediziner. Je kleiner die Kinder seien, desto größer sei die Gefahr einer Überhitzung. Dabei könne es zu Krampfanfällen, Einschränkungen von Hirnfunktionen und schließlich zum Tod kommen.

«Ungeachtet der Außentemperaturen sollten Kinder nie allein im Auto gelassen werden», sagt der Mediziner. Nicht nur bei Hitzewellen mit mehr als 30 Grad könne das lebensgefährlich werden. Auch eine Außentemperatur von 25 Grad könne schon gefährlich werden. «Geöffnete Seitenfenster verhindern da nichts, das ist ein Irrglaube», so Maske. (dpa)

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