So, 15.01.2023 , 08:34 Uhr

Im Südwesten sterben überdurchschnittlich viele Versuchstiere

Eine HIV-Infektion ist heute kein Todesurteil mehr, mit Diabetes kann man alt werden und gegen Bluthochdruck helfen viele Medikamente. Die Kehrseite ist, dass diese medizinischen Erfolge nicht ohne Tierversuche auskamen. Tierschützer wollen sie langfristig verbieten.

Baden-Württemberg ist nach Bayern das Bundesland mit der höchsten Zahl von Versuchstieren. Im Jahr 2021 wurden im Südwesten rund 857 000 Tiere im Namen der Wissenschaft für Versuche gezüchtet, teilte der Tierschutzbund unter Berufung auf die vom Bundesinstitut für Risikobewertung jüngst veröffentlichten Zahlen mit. Nur in Bayern seien es mit 891 000 mehr. In Nordrhein-Westfalen wurde die dritthöchste Zahl von etwa 845 000 Versuchstieren registriert. Mehr als die Hälfte der bundesweit für die Wissenschaft verwendeten über fünf Millionen Tiere stammten aus diesen drei Bundesländern.

«Noch immer wird von Bund und Ländern nicht genug unternommen, um Tierversuche durch zeitgemäße Methoden zu ersetzen und die Zahl der Tiere, die im Namen von Wissenschaft und Forschung leiden und sterben müssen, zu minimieren», kritisierte Verbandspräsident Thomas Schröder.

Die seit Jahren vergleichsweise hohe Zahl an Versuchstieren kommentierte das Wissenschaftsministerium mit dem Hinweis, dass Baden-Württemberg im Bundesländervergleich ein führender Standort der biomedizinischen Forschung sei. «Tierversuche sind in dieser Zukunftstechnologie nach wie vor ein wichtiger Baustein im Methodenmix», betonte Ressortchefin Petra Olschowski (Grüne).

In der Medizinforschung gebe es bereits vielversprechende Methoden, um Tierversuche zu verringern. Ihr Haus unterstütze das 3R-Netzwerk zur Vermeidung, Verringerung und Verbesserung von Tierversuchen (Replacement, Reduction, Refinement – 3R). Überdies schreibe das Land einen Forschungspreis und ein Förderprogramm für Ersatzmethoden aus. Allerdings sei es für die Grundlagenforschung nur bedingt möglich, Tierversuche durch andere Methoden zu ersetzen.

Der Verband Forschender Arzneimittelhersteller wies darauf hin, dass die Pharma-Industrie gar kein Interesse daran habe, mehr Tierversuche zu machen als unbedingt notwendig. «Die personalaufwendigen Versuche mit speziell für Forschungszwecke gezüchteten Tieren sind ein nicht zu vernachlässigender Kostenfaktor», erläuterte Forschungssprecher Rolf Hömke.

Ziel der Unternehmen sei es, schrittweise immer weniger Tiere zu benötigen. Diese Bemühungen würden jedoch durch eine überbordende Genehmigungsbürokratie ausgebremst. Denn es müssten mehrere Institutionen und Organisationen in EU und USA grünes Licht geben, bis eine neue Methode für Arzneimitteltests anerkannt sei. Der Prozess dauere bis zu zehn Jahre – manchmal noch länger.

Aus Sicht des Tierschutzbundes ist eine Ausstiegsstrategie aus Tierversuchen seit Jahren überfällig. «Eine deutliche Reduzierung der Zahlen kann nur dann gelingen, wenn massiv in die Entwicklung und Anwendung von tierversuchsfreien Methoden investiert wird», betonte Verbandschef Schröder.

Der Verband der Arzneimittelhersteller hält Tierversuche weiterhin für unverzichtbar in der Entwicklung neuer Medikamente. In der Grundlagenforschung versuchen die Forscherteams, mit Hilfe von Versuchstieren zu verstehen, was sich im Körper bei Krankheiten abspielt. «Bei neu erfundenen Medikamenten helfen sie ihnen in vielen Fällen, mögliche Risiken wie Schädigung von Leber, Nieren oder Missbildungen zu erkennen, bevor die Medikamente mit Freiwilligen erprobt werden», erläuterte Verbandssprecher Hömke.

Mit der Genehmigung von Tierversuchen werde in Deutschland sehr verantwortungsvoll umgegangen. Um die Erlaubnis für einen Tierversuch zu erhalten, müsse ein Versuchsleiter in seinem Antrag beim zuständigen Regierungspräsidium darlegen, warum das Ergebnis nicht ohne Tiere, mit weniger Tieren oder mit Tieren eine primitiveren Art erzielt werden könne – beispielsweise mit Fischen statt Ratten. Außerdem müsse er die artgerechte Unterbringung, Pflege und medizinische Versorgung der Tiere nachweisen. Zudem müsse eine Kommission mit Forschern und Tierschützern zu Rate gezogen werden.

Versuchstiere werden zum Beispiel in der Krebsforschung eingesetzt. Das Deutsche Krebsforschungszentrum betonte, Krebs sei eine vielschichtige Krankheit, die den ganzen Körper betreffe. Diese Komplexität lasse sich nur in einem lebenden Organismus abbilden, so dass in der Krebsforschung nicht auf Untersuchungen an Tieren verzichtet werden könne. «Ein großer Teil der Forschungsergebnisse, die die Krebsmedizin in jüngster Zeit vorangebracht haben, basiert ganz wesentlich auf Untersuchungen an Tieren», teilten die Heidelberger Experten mit. Als Beispiel dafür nannten sie die Entwicklung der Immun-Checkpoint-Inhibitoren, mit denen sich erstmals zahlreiche Krebsarten erfolgreich zurückdrängen lassen, die zuvor kaum zu behandeln waren.

Der Tierschutzbund verwies darauf, dass in der 2021er Statistik auch Tiere berücksichtigt wurden, die zwar für wissenschaftliche Zwecke gezüchtet, aber letztlich nicht benötigt werden. Die meisten dieser zuviel gezüchteten Tiere entfielen auf Baden-Württemberg – rund 463 000. Betrachtet man nur die tatsächlich für Forschungszwecke verwendeten Tiere, ist in Bayern und Baden-Württemberg ein leichter Rückgang, in Nordrhein-Westfalen und sechs weiteren Bundesländern ein Anstieg im Vergleich zum Vorjahr zu verzeichnen.

Am meisten werden Mäuse gebraucht, gefolgt von Fischen und Ratten. Im Jahr 2021 wurden bundesweit fast 2000 Affen – darunter Paviane, Totenkopfäffchen und Makaken – verwendet.

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