Do., 06.07.2023 , 08:19 Uhr

Mannheim: Tafeln sehen sich am Limit - Zahl der Menschen aus Mittelschicht wächst

Seit 30 Jahren helfen Tafeln armen Menschen, über die Runden zu kommen. Finanziert werden die Läden für «gerettete» Lebensmittel durch Spenden. Kann ihre staatliche Unabhängigkeit weiter bestehen, auch wenn mehr Menschen zu den günstigen Waren greifen müssen?

Die Tafeln gegen Armut und Lebensmittelverschwendung sehen sich am Limit: lange Schlangen vor den Läden, Aufnahmestopps bei den Kunden, hohe Infrastrukturkosten. Dabei wächst die Zahl von Menschen aus der Mittelschicht, die auf günstige Lebensmittel angewiesen sind. «Die Tafeln sind ein Seismograph für gesellschaftliche Veränderungen», sagt Sabine Werth, die vor 30 Jahren in Berlin die erste Tafel Deutschlands gründete und seitdem dort den Vorsitz der Tafel innehat.

Bei ihrem Bundestreffen vom 6. bis zum 8. Juli in Mannheim wählen die Tafel-Delegierten den Vorstand neu. Der Vorsitzende, Jochen Brühl, tritt nach zehn Jahren nicht mehr an. Der Führungswechsel fällt in eine Zeit zunehmender Bedeutung der Tafeln in der Armutsbekämpfung.

Was bekommt man bei den Tafeln?

Helfer sammeln überschüssige Lebensmittel in Handel, Bäckereien und Gastronomie ein und bringen sie zu den Tafeln. Die Waren kommen aus Lagerbeständen, Retouren und Überproduktion. Auch Produkte mit kurzem Mindesthaltbarkeitsdatum oder Schönheitsfehlern werden abgeholt. Das Angebot für die Kunden und Kundinnen der Tafeln kann von Obst und Gemüse über Backwaren bis hin zu Milchprodukten reichen. Haltbare Waren wie Nudeln oder Reis werden seltener gespendet.

Wer besucht die Tafeln?

Vermehrt kommen Menschen, die durch Corona ihren Job verloren haben, in Kurzarbeit sind oder ihre Selbstständigkeit aufgeben mussten. «Deren Ersparnisse sind aufgebraucht, deshalb kommen sie zu uns», sagt Werth. Eigentlich seien Tafeln als Entlastung des Budgets gedacht, damit die Menschen sich mal einen Kino- oder Konzertbesuch leisten können. Jetzt stehe das Essen im Vordergrund.

Wie bewerten Arbeitslosen-Initiativen die Entwicklung der Tafeln?

Aus Sicht des Fördervereins gewerkschaftlicher Arbeitslosenarbeit ist es ein Skandal, dass private Organisationen wie die Tafeln als Lückenbüßer das staatlich garantierte Existenzminimum bereitstellen müssten. «Für viele Menschen sind die Tafeln der letzte Rettungsanker», sagt Referent Rainer Timmermann. Das Bürgergeld reiche auch nach einer Erhöhung um 50 Euro wegen gestiegener Inflation und Stromverteuerung nicht zum Leben.

Wie entwickeln sich die Nutzergruppen?

Der Zuwachs bei den Nutzern in Kurzarbeit, bei Arbeitslosengeld-II-Beziehern und Rentnern lag 2021 bei je etwa einem Drittel. Hingegen ging die Zahl der Asylbewerber nach weiteren Angaben des Vereins Tafel Deutschland um fast ein Viertel zurück. Etwa ein Viertel der Kunden stellten jeweils Kinder und Senioren.

Im Jahr 2022 haben demzufolge zwei Millionen Kunden das Angebot wahrgenommen. Von 15 Millionen armutsgefährdeten Menschen in Deutschland erreichen die Tafeln nur einen kleinen Teil. «Deshalb ist Kritik an einem «Vertafeln der Gesellschaft», die den Rückzug des Sozialstaats kaschiert, völliger Quatsch», sagt Werth.

Woher kommt der Tafelgedanke?

Zwei Dinge fielen zusammen: ein Zeitungsbericht über die Organisation City Harvest («Stadt-Ernte») in New York, die überschüssige Lebensmittel an Obdachlose verteilte, und ein Vortrag der damaligen Sozialsenatorin Ingrid Stahmer (SPD) über Obdachlosigkeit in Berlin. Beides rüttelte die Initiativgruppe Berliner Frauen auf, darunter Sabine Werth. «Damals lautete die Aussage der Regierung Kohl, es gebe keine Armut in Deutschland und jeder beziehe auskömmliche Leistungen», sagt die 66-Jährige. Dies sahen sie und eine Handvoll Mitstreiterinnen ganz anders und baten Firmen nach US-Vorbild um Spenden nicht verkäuflicher, aber noch genießbarer Lebensmittel. Daraus entstanden fast 970 Tafeln mit 60 000 ehrenamtlichen Helfern.

Wer darf sich an den Tafeln bedienen?

Nicht nur Obdachlose, sondern auch Menschen, die mittels Jobcenter-, Renten- oder Bafög-Bescheid ihre Bedürftigkeit nachweisen können, erhalten einen Tafelausweis. Der Dachverband nennt als Armutsschwelle 1251 Euro brutto pro Monat für einen Single-Haushalt und 2627 Euro für einen Haushalt mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern unter 14 Jahren.

Im Detail gibt es Unterschiede: In Berlin kann von Tafeln profitieren, wer – je nach Ausgabestelle – weniger als 800 oder 900 Euro im Monat zur Verfügung hat; für jeden Einkauf sind ein oder zwei Euro fällig. Die Mannheimer Kunden etwa bezahlen die einzelnen Waren für maximal ein Drittel des üblichen Ladenpreises. In Frankfurt wird pro mitgenommenen Beutel ein Euro bezahlt. Auch Öffnungshäufigkeit und -länge sowie das Sortiment sind abhängig von den Bedingungen vor Ort. «Wir sind ja kein Supermarkt», sagt Dachverbandssprecherin Anna Verres.

Wie viel wird an die Tafeln gespendet?

Nach Auskunft des Handelsverbandes Lebensmittel spenden Firmen 74 000 Tonnen Lebensmittel im Jahr an Tafeln. Das ist aber eher ein Tropfen auf den heißen Stein: Laut Dachverband der Tafeln landen 18 Millionen Tonnen Lebensmittel jährlich im Müll, zur Hälfte noch genießbar. Bei Supermärkten sei das Spendenaufkommen rückläufig, da bei diesen bewusster gegen Überschüsse vorgegangen wird. «Die moralische Hürde, etwas wegzuwerfen, ist höher geworden», meint Verres.

Dagegen werde die Infrastruktur zur Abholung von Lebensmitteln beim Hersteller weiter ausgebaut. Dafür seien Kühlfahrzeuge und regionale Tiefkühllager erforderlich, deren Betrieb und Anschaffung von den fast ausschließlich aus Spenden finanzierten Tafeln kaum zu wuppen seien. Einige Bundesländer gewährten Krisenfonds. Eine dauerhafte staatliche Förderung ist für Verres kein Tabu. Bei so geringen Summen drohe keine staatliche Vereinnahmung.

Welche Bedeutung haben die Wahlen der Verbandsspitze?

Werth lehnt staatliche Mittel hingegen kategorisch ab. Die Wahl der neuen Verbandsspitze sei eine Richtungswahl, sagt sie. Es gehe um nichts weniger als die Unabhängigkeit der Bürgerbewegung. (dpa)

Armut Mannheim Tafel

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